Reichlich Stoff zum Erzählen

axelsson_vortragDie schwedische Autorin Majgull Axelsson war am 13. Jänner 2016 zu Gast am Institut für Skandinavistik der Universität Wien und sprach über das Schreiben an sich, ihre Biografie und einige ihrer Werke.

Die 1947 geborene Autorin arbeitete 20 Jahre lang als Journalistin, „ganz durchschnittlich“, wie sie selbst fand, bis sie beschloss, diese „langweilige Art zu schreiben“ hinter sich zu lassen und sich dem Schreiben von Belletristik zu widmen. Über eine journalistische Publikation zum Thema Kinderarbeit wurde sie auf das Thema Kinderprostitution aufmerksam. Bei Recherchen auf den Philippinen lernte sie das Mädchen Rosario kennen, dessen Geschichte auf rein faktischem Niveau nicht darstellbar war. Sein Leben und Sterben waren für Axelsson ein Stoff, der erzählt werden musste.  axelsson_rosarioSo entstand der dokumentarische Roman „Rosario är död“ (dt. „Rosarios Geschichte“). Die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema, Rosario arbeitet als Kinderprostituierte und stirbt nach einer Verletzung, die ihr ein Freier zufügt, qualvoll, war hart, aber das literarische Schreiben fiel Axelsson leichter. Sie beschloss, Vollzeitautorin zu werden; nicht weil das Buch sich so gut verkaufte, aber weil sie es sich mit Unterstützung durch ihren Mann doch irgendwie leisten konnte. Es entstand der erste rein fiktive Roman „Långt borta från Nifelhjem“ (1994, dt. „Der gleiche Himmel“), in dem eine Frau Anfang 40 nach Hause nach Schweden an das Totenbett ihrer Mutter reist und sich nicht nur mir ihrer Kindheits- und Jugendzeit konfrontiert sieht, sondern auch mit dem, was ihr nicht lang zuvor während eines Vulkanausbruchs auf den Philippinen zugestoßen ist, das sie aber noch verdrängt.

Axelsson sprach in ihrem Vortrag in Wien sehr offen über ihren privaten Hintergrund und wie dieser immer wieder bedeutsam für ihr literarisches Schaffen war. So erzählte sie, wie eine Alzheimererkrankung ihren Vater und ein Gehirntumor ihre Schwester stark veränderten und sie das in ihren Roman axelsson_aprilhexe„Aprilhäxan“ (1997, dt. „Die Aprilhexe“) einfließen ließ. Zentrale Figur des Romans ist Desirée, die in den 1950er Jahren mit einer schweren Behinderung geboren wird und sofort in ein Heim kommt. 40 Jahre später erhalten ihre drei (Pflege-)Schwestern einen Brief von ihr. Desirée versucht herauszufinden, wer von den dreien ihr Leben gestohlen hat. Doch wie der Roman eindrücklich darstellt, gibt es nicht nur darauf keine Antwort, vielmehr sind die Leben der Frauen alle auf eine Art verkorkst, dass man mit keiner tauschen möchte. Neben den Schicksalen der Protagonistinnen wird auch das schwedische Volksheim demontiert.  „Die Aprilhexe“ brachte Axelsson den großen Durchbruch, der Roman wurde zum Bestseller und u.a. mit dem prestigeträchtigen Augustpreis ausgezeichnet.

Nach dem großen Erfolg „kam die große Depression“ und es war schwierig, den Anschluss im Schreiben zu finden. Es dauerte viele Bücher lang, meint Axelsson, bis sie wieder einen Stoff fand, über den noch nicht viel geschrieben worden war und der ihr so richtig nahe ging. Damit spielt sie an ihren neusten Roman „Jag heter inte Miriam“ (2014, dt. „Ich heiße nicht Miriam“) an, der vom Umgang axelsson_miriamSchwedens mit der Minderheit der Roma handelt. Die Hauptfigur Miriam bekommt zu ihrem 85. Geburtstag ein Armband mit ihrem eingravierten Namen geschenkt und kommentiert das überrascht mit: „Ich heiße nicht Miriam“. Ihre Verwandten wissen nicht recht, ob sie richtig gehört haben und der Moment geht vorbei. Doch Miriams Enkelin lässt der Vorfall keine Ruhe und sie fragt nach. Die Geschichte, die sei dann zu hören bekommt, geht über die Grenzen des Vorstellbaren. Miriam, eine Jüdin, die mehrere KZ überlebt hat, wie alle meinen, hat schon im Lager durch Zufall eine andere Identität angenommen. Denn eigentlich heißt sie Malika und ist Roma. Sie überlebt, kommt nach Schweden und muss feststellen, dass sie als Roma auch hier nicht sicher wäre und so bleibt sie Miriam.

Der Roman schildert in vielen Rückblenden Miriams Geschichte und was das in der Gegenwart für die alte Frau bedeutet. So werden auch weitgehend unbekannte geschichtliche Ereignisse benannt, wie z.B. der Widerstand von Roma-Häftlingen in Ausschwitz oder die sog. „Zigeunerkrawalle“ in der schwedischen Kleinstadt Jönköping 1948. Roma wurden in Schweden lange Zeit diskriminiert, durften sich z.B. nirgends niederlassen. Ein Aspekt schwedischer Geschichte, der noch nicht aufgearbeitet ist. Der Roman über Miriam ist fiktiv. Axelsson stieß bei ihren Recherchen vielfach noch auf beängstigtes Schweigen. Einige persönliche Reaktionen nach Veröffentlichung des Buches zeigten ihr jedoch, dass die Fiktion nicht weit von realen Lebensgeschichten weg ist, dass die Betroffenen aber immer noch vorziehen, anonym zu bleiben.

 

Erwähnte Romane:

Majgull Axelsson: Rosario är död. 1989. dt. Ausgabe „Rosarios Geschichte“ 2002.

Majgull Axelsson: Långt borta från Nifelhjem. 1994. dt. Ausgabe „Der gleiche Himmel“ 2004.

Majgull Axelsson: Aprilhäxan. 1997. dt. Ausgabe „Die Aprilhexe“ 2000.

Majgull Axelsson: Jag heter inte Miriam. 2014. dt. Ausgabe „Ich heiße nicht Miriam“ 2015.