Lyrik in zwei Sprachen

„Der Sonnenball/Schwindet in die Polarnacht/Um im Frost zu verglimmen“ – es sind Verse wie dieser, die in der Gedichtsammlung „Sahne für die Sonne“ der samischen Autorin Inger-Mari Aikio die acht Jahreszeiten Lapplands fühlbar machen. Entstanden sind die Gedichte in einem gemeinsamen lyrischen Musikprojekt der Autorin mit dem finnischen Musiker Miro Mantere. Der Form nach sind die kurzen Gedichte eine Mischung aus Haiku und Tanka, die Aikio „Taiku“ nennt. Ausgehend von Naturmotiven schrieb die zweisprachige Autorin insgesamt über 300 Gedichte, teilweise auf Samisch, teilweise auf Finnisch, wobei immer zwei einander inhaltlich entsprechen, aber nicht wortwörtlich übersetzt sind, sondern in der jeweiligen Sprache die selbe Wirkung mit den jeweils am besten passenden sprachlichen Mitteln erzeugt wird. Um diese Dopplung auch für eine deutsche Ausgabe nachvollziehbar zu machen, wurde mit zwei (ebenfalls verwandten) Zielsprachen – Deutsch und Englisch – gearbeitet. Studierende der Uni Bielefeld arbeiteten dafür mit erfahrenen Dozentinnen und professionellen literarischen Übersetzerinnen zusammen. Das Ergebnis ist somit nicht nur in den lyrischen Naturbeschreibungen in jeder Sprache interessant, sondern auch in der Zusammenschau beider Übersetzungen und dem Herantasten an die sprachlichen Nuancen. „Even the sun must/Surrender into the polar night/Let it lead into the frost”. Ein Must-Read.

Inger-Mari Aikio: Sahne für die Sonne. 94 Seiten. Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2018     EUR 16,50

Feministisch Schreiben

Trotz langer Erfahrung als Buchrezensentin stehe ich gerade vor der etwas paradoxen Situation, ausgerechnet bei einem Buch über das Schreiben nicht zu wissen, wie ich anfangen soll. In „Schafft euch Schreibräume!“ von Judith Wolfsberger, Autorin, Schreibtrainerin und Gründerin des Schreibstudios writersstudio in Wien, werden wir Zeuginnen des sich über Jahre erstreckenden Prozesses der Entstehung ebendieses Buches. Die Lektüre war lustvoll und interessant. Das Buch strotzt nur so von Gedanken und Ideen, denen ich gerne nachgehen würde. So stehe ich vor der unlösbaren Aufgabe in dem zur Verfügung stehenden Platz all das anzusprechen und muss mich auf Andeutungen beschränken. Das Buch verwebt das im anglo-amerikanischen Raum verbreitete autobiografische Genre eines Memoirs mit Travel Essays, Analysen von Virginia Woolfs Texten, fragt danach, was Schreibende zum Schreiben brauchen, und reflektiert Fragen zu feministischer Schreibpraxis, nicht zuletzt von Wissenschaftlerinnen. Die Autorin nimmt uns mit auf Reisen auf den Spuren Virginia Woolfs nach London oder Cornwall, teilt persönliche Auseinandersetzungen mit der eigenen Familiengeschichte und intergenerationellen Traumata, analysiert die Entwicklung von Schreibräumen für Frauen, wobei „Räume“ weiter zu verstehen sind als einfach nur „Zimmer“ und berichtet von Erfahrungen aus amerikanischen Schreibgruppen und -seminaren. Ein Band zum Immer-wieder-lesen, Querlesen, Drin-Blättern, Anregungen finden – für alle schreibenden Feministinnen.

Judith Wolfsberger: Schafft euch Schreibräume! Weibliches Schreiben auf den Spuren Virginia Woolfs. Ein Memoir. 292 Seiten, Böhlau Verlag, Wien 2018      EUR 30,–

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2018

Schreiben und älter werden

gleichauf_fantasieDie Literaturwissenschaftlerin Ingeborg Gleichauf geht in diesem Buch der Frage nach, was das Schreiben von Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase, also im Alter über 60 ausmacht. Ob und welche Veränderungen zu erkennen sind. Sie analysiert dabei das Werk von 15 durchwegs bekannten Autorinnen und spannt dabei einen Bogen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (Else Lasker-Schüller) bis heute, darunter sind Djuna Barnes und Simone de Beauvoir, Patricia Highsmith und Christa Wolf. Die ältesten noch Lebenden, über die sie schreibt, sind Maria Beig, Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker. Die Jüngste ist mit 79 Jahren Maja Beutler. Die meisten blicken auf lange Karrieren in ihrem Metier zurück, es gibt also klarerweise eine Entwicklung in ihrem Schaffen über die Jahre.  Allen gemein ist, dass sie nicht daran denken, mit dem Schreiben aufzuhören, trotz aller Widrigkeiten, die zum Beispiel körperliche Veränderungen mit sich bringen. Die meisten leben eher zurückgezogen, legen viel Energie ins Schreiben und – so Gleichaufs Resümee  – „keine wird sentimental, keine lamentiert“. Immer noch sind viele unbequem, auch kritisch gegenüber sich selbst. Einige entdecken immer neue Seiten ihrer Kreativität, bei allen lebt die Fantasie. Alles in allem ein Kaleidoskop an Künstlerinnenporträts außergewöhnlicher Schreiberinnen. Ein Band zum immer wieder in die Hand nehmen.

Ingeborg Gleichauf: So viel Fantasie. Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase. AvivA Verlag Berlin 2015  EUR  20,45

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015

Schneller lesen per App?

Mit diesem Eintrag geht eine neue Kategorie an den Start: „Lesen – Schreiben – Übersetzen“. Um Bücher geht es dabei auch, aber nicht nur. Vielmehr gibt es hier Platz für Berichte von Vorträgen, Veranstaltungen usw. zu den genannten Themenbereichen. Bin selber schon gespannt….

spritzx4Die neuen Medien verändern das Leseverhalten. Gerade wenn über Kinder und Jugendliche gesprochen wird, vermuten KulturpessimistInnen wieder einmal eine allgemeine Verdummung, wie schon bei Erfindung von Kino oder Fernsehen. Wobei man dabei auch nicht vergessen darf, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass auch zu viel lesen unerwünscht war. Gerade was die Quantität anbelangt zeigen aktuelle Untersuchungen, dass wir so viel lesen wie nie zuvor. Auch jugendliche Leserinnen und Leser. Den Unterschied macht allerdings aus, was wir lesen, denn darunter sind sehr viele kurze Texte wie SMS, E-Mails oder Posts in Onlineforen.

Interessante Denkimpulse zum Thema präsentierte am 3. November 2015 Alexandra Borg von der Universität Uppsala in einem Vortrag mit dem Titel „Quantifizierung der Literatur. Über Zeitdruck und digitales Lesen: das Beispiel Spritz“ an der Universität Wien. Borg ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und arbeitet zur Zeit im Rahmen des Pilotprojektes „Flexit“ des Jubiläumsfonds der Schwedischen Nationalbank an Fragen rund um das Lesen der Zukunft, oder „Lesen 2.0“. „Flexit“ richtet sich an ForscherInnen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, die an der Schnittstelle zwischen Forschung und Wirtschaft arbeiten wollen. Dabei werden einerseits Karrierewege abseits der Universitäten geöffnet, anderseits die Kompetenzen von WissenschaftlerInnen für Unternehmen sicht- und nutzbar.

Im Fall von Alexandra Borg heißt das, dass sie in, mit und für den Verlag Bonnier an Fragen zur Herstellung digitaler Texte arbeitet und sich dabei auch den ganz konkreten Prozessen („Wie entsteht ein E-Book?“) widmet. Darüber hinaus geht es in ihrer Arbeit um den Konsum von Texten. Auch hier wird in Alltagsdiskursen oft zwischen „gutem“ (=genau, langsam) und „schlechtem“ (=schlampig, schnell) Lesen unterschieden. Borg sieht Lesen als eine Praxis, die eben auch Veränderungen unterworfen ist. Diese unterschiedlichen Buchrad-von-Ramelli-1588Ausprägungen, gerade auch in Verbindung mit technischen Hilfsmitteln, werden sehr anschaulich, wenn man etwa ein „Buchrad“ aus dem 16. Jahrhundert betrachtet. Das war ein großes Holzrad, ähnlich einem wasserbetriebenen Mühlrad. In jedes Fach konnte ein aufgeschlagenes Buch gelegt werden. Saß man davor, konnte man während der Lektüre zu einem anderen Buch weiterdrehen. Man hatte also – ähnlich wie wir das von mehreren Fenstern am Computer kennen – mehrere Texte gleichzeitig lesebereit. Moderne E-Reader bieten ganz ähnliche Lesemöglichkeiten.

Neue technische Hilfsmittel versprechen ein neues „Leseerlebnis“ und im Fall der von Borg analysierten App „Spritz“ auch eine höhere „Lesegeschwindigkeit“. Das funktioniert so: auf einem digitalen Device (Mobiltelefon, Tablet oder PC) wird ein elektronischer Text geladen. In einem schmalen Lesefeld werden entsprechend einer vorher gewählten Geschwindigkeit die Wörter nun einzeln nacheinander angezeigt. Ein Buchstabe ist jeweils rot markiert und wird vom Auge fixiert. Durch den Wegfall der Augenbewegungen erhöht sich die Anzahl der Wörter, die in einem bestimmten Zeitraum gelesen werden können. Laut Spritzinc des 2014 gelaunchten Startups mit Sitz in Boston und München richtet sich „Spritz“ an alle, die lesen können, auch an Kinder. Für Alexandra Borg bietet die App jedenfalls ein neues, anderes Leseerlebnis und damit eine Wahl mehr, die Leserinnen und Lesern heute und in Zukunft zur Verfügung steht.

Foto: Buchrad von Ramelli 1588 (Foto aus der Habilitationsschrift G. Keil), siehe www.austria-forum.org