Willkommen zum NordNerds Adventskalender 2018 – Türchen 9 wartet

Logo NordNerds Adventskalender 2018Michel aus Lönneberga, Pippi Langstrumpf und Madita, sie alle haben mir schon als Kind die Zeit des Wartens auf Weihnachten verkürzt – sei es durch die Schilderungen des idyllischen schwedischen Weihnachtens oder durch die mit Sicherheit zu den Feiertagen wiederkehrende Ausstrahlung der diversen Verfilmungen. Es lag also mehr als nahe, mein Türchen Nr. 9 des NordNerds Adventskalenders 2018 mit einem Beitrag zu jener Frau zu füllen, die mir und so vielen anderen diese Fantasiewelten geschenkt hat: Astrid Lindgren. Und weil es so schön ist, aus dem Adventskalender kleine Geschenke zu holen, gibt es auch etwas zu gewinnen.

Astrid Lindgren – Film und Gewinnspiel

FilmplakatSo bekannt Astrid Lindgrens Bücher und Filme auch sind, und zwar mit ungebrochener Beliebtheit über inzwischen mehrere Generationen von Lesenden, so wenig weiß man – zumindest außerhalb Schwedens – über die Autorin selbst. Vielleicht ist das auch gar nicht notwendig, denn schließlich sprechen ihre Werke für sich. Doch nun, fast 17 Jahre nach dem Tod Lindgrens, bringt ein neuer Film ganz private Seiten ihrer Biografie auf die Leinwand. Die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen ist eigenen Angaben zufolge durch Zufall auf die Geschichte jener einschneidenden Erlebnisse aus den Jugendjahren der Autorin gestoßen, die sie zu weiteren Recherchen und schließlich dem gerade auch im deutschsprachigen Raum angelaufenen Film „Astrid“ inspiriert hat.

Ein Geheimnis war es nie, in allen Biografien ist es nachzulesen, doch nachdem Lindgren selbst sich später nie öffentlich dazu geäußert hat, wurde auch nie eine große Sache daraus. Mit 16 Jahren bekam Astrid – damals Ericsson – die Chance, als Volontärin bei der Zeitung von Vimmerby zu arbeiten und damit sich erstmals in jenem Metier zu erproben, das später ihr Leben prägen sollte, dem Schreiben. Sie war jung und hungrig nach dem Leben, es waren die „wilden“ 20er Jahre, ein bisschen auch in Småland. Doch eine Affäre mit dem 30 Jahre älteren Chefredakteur der Zeitung blieb nicht folgenlos. Astrid wurde schwanger, und „wilde“ 20er Jahre hin oder her, im Dorf wäre das ein Skandal geworden, hätte es sich herumgesprochen. Eine leichte Lösung für die entstehenden Probleme gab es nicht. Eine Heirat mit dem noch dazu anderweitig verheirateten künftigen Vater kam nicht in Frage.

Astrid floh aus ihrem Heimatort nach Stockholm und begann dort eine Ausbildung zur Sekretärin. Das Kind brachte sie in Kopenhagen auf die Welt, wo das einzige Krankenhaus Skandinaviens lag, in dem Geburten nicht offiziell an die Heimatgemeinden gemeldet wurden und es möglich daher möglich war, den Vater nicht bekannt zu machen. Doch mit nach Hause nehmen konnte sie den kleinen Lasse nicht, er blieb bei einer Pflegemutter in Dänemark. Astrid schloss ihre Ausbildung ab, lebte in einem kalten Untermietszimmer und hungerte, damit sie ab und zu eine Reise über den Öresund zu ihrem Sohn finanzieren konnte. Erst nach einigen Jahren war Astrid in der Lage, ihr Kind nach Stockholm zu holen.

Der Film mit der dänischen Schauspielerin Alba August in der Hauptrolle konzentriert sich auf jene wenigen Jahre des Erwachsenwerdens und versucht mit großer Emotion die Bedeutung dieser schweren Erfahrungen für das Schaffen einer später berühmten Autorin zu ergründen. Während der Film in Schweden ein großer Publikumserfolg ist und vor allem die Leistung der Hauptdarstellerin hoch gelobt wird, gibt es auch kritische Stimmen, nicht zuletzt von Personen, die Lindgren persönlich kannten. Biografische Filme müssen immer interpretieren und Lücken in der Erzählung füllen – und diese Lücken sind hier aufgrund der Zurückhaltung Lindgrens groß. Dadurch werden Filme wie dieser aber auch zu eigenständigen Werken, in denen Fakten und Fiktionen zu einer neuen Geschichte verwebt werden. In diesem Fall die Geschichte einer jungen Frau, die gegen alle Konventionen der Gesellschaft ihrer Zeit kämpft und große Entbehrungen auf sich nimmt, um sich so viel Autonomie wie möglich zu verschaffen, und das ist weit über die Lebensgeschichte Lindgrens hinaus interessant und sehenswert.

Kinokarten zu gewinnen

Neugierig geworden? Du möchtest selbst eintauchen in diese Erzählung übers Erwachsenwerden unter besonders schwierigen Umständen? Dann kannst Du hier 2 x 2 Kinokarten für den Film „Astrid“ gewinnen. Mitmachen können alle, die über 18 und in Österreich wohnhaft sind. Alles was Du tun musst, ist unter diesem Artikel in den Kommentaren zu posten, welches Deine Lindgren-Lieblingsfigur ist und warum.

Unter allen Kommentaren, die bis 14. Dezember 2018 um 23:59 eingehen, wird ausgelost. Die GewinnerInnen werden per E-Mail verständigt. (Deine E-Mail-Adresse ist zur Abgabe eines Kommentars nötig. Sie wird aber nicht auf der Webseite angezeigt und für keinen anderen Zweck als die Gewinnspielabwicklung verwendet oder gespeichert.) Hier geht es zu den Teilnahmebedingungen im Detail.

Weiterlesen

Wenn Du einstweilen schon mal mehr zu Astrid Lindgren lesen möchtest, findest Du auf meinem Blog Artikel zu Lindgrens Engagement gegen Gewalt gegen Kinder, zu einem wunderschönen Bildband mit Eindrücken aus allen Lebensabschnitten der Autorin, zur Urfassung von Pippi Langstrumpf sowie zum Briefwechsel mit Sara Schwardt.

 

Dieser Artikel ist ein „Türchen“ des NordNerds-Adventskalenders. Mehr nordischen Weihnachtsflair gibt es täglich auf folgenden Blogs:

  1. Sa www.mahtava.de
  2. So www.schwedenundso.de
  3. Mo www.bessernordalsnie.net
  4. Di www.sanddornundseegras.de
  5. Mi www.mahtava.de
  6. Do www.fernwehge.com
  7. Fr www.nordlandfieber.de
  8. Sa www.nordlicht-unterwegs.de
  9. So www.nordstein.at
  10. Mo www.utiniswundertuete.de
  11. Di www.tarjasblog.de
  12. Mi www.wienerbroed.com
  13. Do www.schwedenhappen.ch
  14. Fr www.bit.ly/franziinschweden
  15. Sa www.kapidaenin.de
  16. So www.besser-nord-als-nie.net
  17. Mo www.heldenunterwegs.de
  18. Di www.toertchenmadeinberlin.com
  19. Mi www.einfachschweden.de
  20. Do www.mahtava.de
  21. Fr www.elchkuss.de
  22. Sa www.meerblog.de
  23. So www.kapidaenin.de
  24. Mo www.finnweh.de 

Ein Schriftstellerinnenleben

Wassmo_SchrittfürSchrittIn jeder Ausgabe des WeiberDiwan gibt es ein Lieblingsbuch für mich: diesmal ist es „Schritt für Schritt“ der Norwegerin Herbjørg Wassmo. Wie konnte mir diese Autorin nur all die Jahre entgehen! Nicht nur in Norwegen, sondern auch im deutschsprachigen Raum ist sie mit ihrer Trilogie über Tora, ein sog. Deutschenkind, bekannt geworden, in der sie ein nationales Tabu, nämlich den unsäglichen Umgang Norwegens mit Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs Beziehungen zu Deutschen eingingen, und den daraus hervorgegangen Kindern literarisch aufarbeitet.

In „Schritt für Schritt“ wird es in der Schilderung des Lebenswegs und Werdens einer Autorin vor dem Hintergrund der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sehr persönlich. Eine bekommt Gänsehaut bei dieser direkten und ehrlichen Art, in der die heute 73-jährige Autorin Privates, das wie hier eindrücklich in Erinnerung gerufen wird ungeheuer politisch ist, erzählt. Themen wie Kindesmissbrauch, Teenager-Schwangerschaft, Bedingungen einer Ehe, die Beziehung zu einem Alkoholiker, politisches Engagement trotz anderer Erwartungen der Gesellschaft an eine Mutter und ein unbändiger Wille zum Schreiben werden angesprochen, wobei eine solch trockene Aufzählung dem Erzählten in keinster Weise gerecht werden kann. Denn es sind der innere Drang der Hauptfigur, der eigene Ton und auch die Kulisse einer oft sehr kargen und harten Natur, die eine nicht mehr loslassen und hineinziehen in diese Roman. Ein mutiges und ermutigendes Buch für einen fixen Platz im Regal der frauenbewegten Literatur.

 

Herbjørg Wassmo: Schritt für Schritt. Aus dem Norw. von Gabriele Haefs. 349 Seiten, Argument Verlag Ariadne, Hamburg 2016    EUR 19,60

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2016

Reichlich Stoff zum Erzählen

axelsson_vortragDie schwedische Autorin Majgull Axelsson war am 13. Jänner 2016 zu Gast am Institut für Skandinavistik der Universität Wien und sprach über das Schreiben an sich, ihre Biografie und einige ihrer Werke.

Die 1947 geborene Autorin arbeitete 20 Jahre lang als Journalistin, „ganz durchschnittlich“, wie sie selbst fand, bis sie beschloss, diese „langweilige Art zu schreiben“ hinter sich zu lassen und sich dem Schreiben von Belletristik zu widmen. Über eine journalistische Publikation zum Thema Kinderarbeit wurde sie auf das Thema Kinderprostitution aufmerksam. Bei Recherchen auf den Philippinen lernte sie das Mädchen Rosario kennen, dessen Geschichte auf rein faktischem Niveau nicht darstellbar war. Sein Leben und Sterben waren für Axelsson ein Stoff, der erzählt werden musste.  axelsson_rosarioSo entstand der dokumentarische Roman „Rosario är död“ (dt. „Rosarios Geschichte“). Die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema, Rosario arbeitet als Kinderprostituierte und stirbt nach einer Verletzung, die ihr ein Freier zufügt, qualvoll, war hart, aber das literarische Schreiben fiel Axelsson leichter. Sie beschloss, Vollzeitautorin zu werden; nicht weil das Buch sich so gut verkaufte, aber weil sie es sich mit Unterstützung durch ihren Mann doch irgendwie leisten konnte. Es entstand der erste rein fiktive Roman „Långt borta från Nifelhjem“ (1994, dt. „Der gleiche Himmel“), in dem eine Frau Anfang 40 nach Hause nach Schweden an das Totenbett ihrer Mutter reist und sich nicht nur mir ihrer Kindheits- und Jugendzeit konfrontiert sieht, sondern auch mit dem, was ihr nicht lang zuvor während eines Vulkanausbruchs auf den Philippinen zugestoßen ist, das sie aber noch verdrängt.

Axelsson sprach in ihrem Vortrag in Wien sehr offen über ihren privaten Hintergrund und wie dieser immer wieder bedeutsam für ihr literarisches Schaffen war. So erzählte sie, wie eine Alzheimererkrankung ihren Vater und ein Gehirntumor ihre Schwester stark veränderten und sie das in ihren Roman axelsson_aprilhexe„Aprilhäxan“ (1997, dt. „Die Aprilhexe“) einfließen ließ. Zentrale Figur des Romans ist Desirée, die in den 1950er Jahren mit einer schweren Behinderung geboren wird und sofort in ein Heim kommt. 40 Jahre später erhalten ihre drei (Pflege-)Schwestern einen Brief von ihr. Desirée versucht herauszufinden, wer von den dreien ihr Leben gestohlen hat. Doch wie der Roman eindrücklich darstellt, gibt es nicht nur darauf keine Antwort, vielmehr sind die Leben der Frauen alle auf eine Art verkorkst, dass man mit keiner tauschen möchte. Neben den Schicksalen der Protagonistinnen wird auch das schwedische Volksheim demontiert.  „Die Aprilhexe“ brachte Axelsson den großen Durchbruch, der Roman wurde zum Bestseller und u.a. mit dem prestigeträchtigen Augustpreis ausgezeichnet.

Nach dem großen Erfolg „kam die große Depression“ und es war schwierig, den Anschluss im Schreiben zu finden. Es dauerte viele Bücher lang, meint Axelsson, bis sie wieder einen Stoff fand, über den noch nicht viel geschrieben worden war und der ihr so richtig nahe ging. Damit spielt sie an ihren neusten Roman „Jag heter inte Miriam“ (2014, dt. „Ich heiße nicht Miriam“) an, der vom Umgang axelsson_miriamSchwedens mit der Minderheit der Roma handelt. Die Hauptfigur Miriam bekommt zu ihrem 85. Geburtstag ein Armband mit ihrem eingravierten Namen geschenkt und kommentiert das überrascht mit: „Ich heiße nicht Miriam“. Ihre Verwandten wissen nicht recht, ob sie richtig gehört haben und der Moment geht vorbei. Doch Miriams Enkelin lässt der Vorfall keine Ruhe und sie fragt nach. Die Geschichte, die sei dann zu hören bekommt, geht über die Grenzen des Vorstellbaren. Miriam, eine Jüdin, die mehrere KZ überlebt hat, wie alle meinen, hat schon im Lager durch Zufall eine andere Identität angenommen. Denn eigentlich heißt sie Malika und ist Roma. Sie überlebt, kommt nach Schweden und muss feststellen, dass sie als Roma auch hier nicht sicher wäre und so bleibt sie Miriam.

Der Roman schildert in vielen Rückblenden Miriams Geschichte und was das in der Gegenwart für die alte Frau bedeutet. So werden auch weitgehend unbekannte geschichtliche Ereignisse benannt, wie z.B. der Widerstand von Roma-Häftlingen in Ausschwitz oder die sog. „Zigeunerkrawalle“ in der schwedischen Kleinstadt Jönköping 1948. Roma wurden in Schweden lange Zeit diskriminiert, durften sich z.B. nirgends niederlassen. Ein Aspekt schwedischer Geschichte, der noch nicht aufgearbeitet ist. Der Roman über Miriam ist fiktiv. Axelsson stieß bei ihren Recherchen vielfach noch auf beängstigtes Schweigen. Einige persönliche Reaktionen nach Veröffentlichung des Buches zeigten ihr jedoch, dass die Fiktion nicht weit von realen Lebensgeschichten weg ist, dass die Betroffenen aber immer noch vorziehen, anonym zu bleiben.

 

Erwähnte Romane:

Majgull Axelsson: Rosario är död. 1989. dt. Ausgabe „Rosarios Geschichte“ 2002.

Majgull Axelsson: Långt borta från Nifelhjem. 1994. dt. Ausgabe „Der gleiche Himmel“ 2004.

Majgull Axelsson: Aprilhäxan. 1997. dt. Ausgabe „Die Aprilhexe“ 2000.

Majgull Axelsson: Jag heter inte Miriam. 2014. dt. Ausgabe „Ich heiße nicht Miriam“ 2015.

 

Schreiben und älter werden

gleichauf_fantasieDie Literaturwissenschaftlerin Ingeborg Gleichauf geht in diesem Buch der Frage nach, was das Schreiben von Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase, also im Alter über 60 ausmacht. Ob und welche Veränderungen zu erkennen sind. Sie analysiert dabei das Werk von 15 durchwegs bekannten Autorinnen und spannt dabei einen Bogen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (Else Lasker-Schüller) bis heute, darunter sind Djuna Barnes und Simone de Beauvoir, Patricia Highsmith und Christa Wolf. Die ältesten noch Lebenden, über die sie schreibt, sind Maria Beig, Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker. Die Jüngste ist mit 79 Jahren Maja Beutler. Die meisten blicken auf lange Karrieren in ihrem Metier zurück, es gibt also klarerweise eine Entwicklung in ihrem Schaffen über die Jahre.  Allen gemein ist, dass sie nicht daran denken, mit dem Schreiben aufzuhören, trotz aller Widrigkeiten, die zum Beispiel körperliche Veränderungen mit sich bringen. Die meisten leben eher zurückgezogen, legen viel Energie ins Schreiben und – so Gleichaufs Resümee  – „keine wird sentimental, keine lamentiert“. Immer noch sind viele unbequem, auch kritisch gegenüber sich selbst. Einige entdecken immer neue Seiten ihrer Kreativität, bei allen lebt die Fantasie. Alles in allem ein Kaleidoskop an Künstlerinnenporträts außergewöhnlicher Schreiberinnen. Ein Band zum immer wieder in die Hand nehmen.

Ingeborg Gleichauf: So viel Fantasie. Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase. AvivA Verlag Berlin 2015  EUR  20,45

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2015

Große Schwindelei

ekmann_schwindlerinnenBarbro Andersson und Lillemor Troj studieren in den 1950er Jahren gemeinsam in Uppsala. Barbro will an einem Literaturwettbewerb teilnehmen; der steht unter dem Motto: ein Lucia-Kurzkrimi. Doch als eher durchschnittlich attraktive Frau rechnet sie sich wenig Chancen aus. Also schickt sie ein Foto der blonden, luciagleichen Lillemor mit. Die beiden gewinnen, Lillemor nimmt den Preis entgegen, das Geld wird geteilt. Das ist der Anfang einer großen Autorinnenkarriere. Barbro schreibt und schreibt, Lillemor kommentiert und repräsentiert. Beide sind – meist – zufrieden mit ihren Rollen. Doch viele Jahre später – Lillemor wurde inzwischen sogar in die Schwedische Akademie gewählt – taucht bei ihrem Verleger das Manuskript für einen Unterhaltungsroman auf – der Plot: die betrügerische Geschichte einer Autorin, die nie eine Zeile selbst geschrieben hat. Lillemor gelingt es zwar, in Besitz des Manuskripts zu kommen, doch Barbro – die eindeutig seine Autorin ist – will sie erst mal auch nicht treffen.

Abwechselnd lesen wir, was Lillemors in der Gegenwart widerfährt und Barbros in Ich-Form geschriebenes Manuskript. Von den Höhen und Tiefen beider Leben, von Liebe, Schicksalsschlägen und Jobs, von Sexismus und Erfolg. Von Freundinnen- und Feindinnenschaft.

Kerstin Ekman, eine der bedeutendsten schwedischen Gegenwartsautorinnen, wird heuer 80. In einer Phase, in der manche AutorInnen Lebensrückblicke oder Autobiographien schreiben, geht Ekman – wieder einmal – ihren ganz eigenen Weg und schreibt ironische, mit ihrer Branche abrechnende Autofiktion, die – ganz große Literatur eben – auch als Roman bestens funktioniert – oder umgekehrt? Mein Buch des Jahres!

Kerstin Ekman: Schwindlerinnen. Roman. Übersetzt von Hedwig M. Binder. 448 Seiten, Piper, München 2012   EUR 23,70

erstmals erschienen in WeiberDiwan 01/2013

Island der Schriftstellerinnen

Island war 2011 als erstes skandinavisches Land Gastland der Frankfurter Buchmesse, was besonders viele isländische Neuerscheinungen, islandbezogene Veranstaltungen und Presseberichte mit sich brachte. 89 belletristische Titel erschienen zwischen Herbst 2010 und Herbst 2011 neu auf Deutsch. 25 davon stammen von Autorinnen, das sind gerade einmal 28 Prozent. Erfreulicherweise waren aber viele Autorinnen persönlich auf der Messe vertreten.

100_4136Island ist ein Land der Superlative, was damit beginnt, dass es sich um das geologisch jüngste Land der Erde handelt und damit aufhört, dass pro Kopf nur die US-Amerikaner*innen mehr Strom verbrauchen. Auch Frauen in der Politik werden immer wieder als Rekordhalter*innen dargestellt: Vigdís Finnbogadóttir war 1980 das erste gewählte weibliche Staatsoberhaupt, 1983 wurde die Frauenallianz als weltweit erste feministische Partei ins Althing gewählt und derzeit führt Jóhanna Sigurðardóttir als erste offen lesbische Premierministerin die Regierungsgeschäfte, was bedeutet, dass sie dafür verantwortlich ist, das nach dem Bankencrash 2007 schwer angeschlagene Land aus der Krise zu führen.

In der Literaturbranche rühmt man sich auch mit Weltrekorden. Gemessen an einer Gesamtbevölkerung von nur 320.000 Personen zeigt die Insel knapp südlich des Polarkreises mit jährlich 1.500 Neuerscheinungen in 42 Verlagen eine starke literarische Szene. Im Schnitt kaufen Isländer*innen acht Bücher im Jahr. Schriftsteller*innen können – so wie andere Künstler*innen – ein staatliches Gehalt beziehen, wenn sie bereits eine bestimmte Anzahl von Veröffentlichungen nachweisen. Ähnliche Voraussetzung gelten auch für eine Aufnahme in die isländische Schriftstellergewerkschaft. Nur ein Drittel der Mitglieder und ein Drittel der Autor*innen, die vom Schreiben leben können, sind allerdings Frauen, was deutlich macht, dass es auch in Island strukturelle Hindernisse für Frauen gibt, um am Buchmarkt zu reüssieren.

Bei den Übersetzungen ins Deutsche sinkt der Anteil von Autorinnen wie eingangs erwähnt noch etwas. Während die erfolgreichsten Autorinnen auf der Frankfurter Buchmesse gut vertreten sind, werden sie in der medialen Wahrnehmung oft ignoriert: Der Standard erwähnt in drei Seiten Text zur Buchmesse 17 Autor*innen namentlich, davon drei Frauen; im Kurier werden acht isländische Neuerscheinungen empfohlen, eines davon von einer Frau; in der Falterbuchbeilage: keine einzige isländische Autorin.

Erzähltraditionen

Weibliches Erzählen hat in Island eine weit zurückreichende Tradition. Die 100_4111mündliche Überlieferung von Dichtung in altnordischer Zeit folgte Formen wie Visionen, Zauberformeln, Arbeitsliedern, Klagegesängen oder Heilungsgedichten und wurde oft von Frauen weitergeben. Schriftlich erhalten ist die Liederedda, deren Texte zumindest zum Teil aus der Zeit vor dem 10. Jahrhundet stammen dürften, auch wenn sie erst später niedergeschrieben wurden. Diese Schilderungen von fantastischen mythologischen Figuren, übernatürlichen Erscheinungen und Heldentaten enthalten viele Anknüpfungspunkte an die Erfahrungswelt von Frauen der Wikingerzeit und geben Frauen in Form von Monologen auch eine Stimme. Aber mit der Christianisierung, den ersten (Kloster-)Schulen und der Verschriftlichung wurde Literatur zu einem männerdominierten Bereich.

In der modernen isländischen Literatur lassen sich trotz aller Diversität ein paar wiederkehrende Motive ausmachen: die karge, raue Natur und die imposante Landschaft mit Gletschern, eisigem Meer und heißen Quellen spielen in vielen Publikationen eine Rolle; ähnliches gilt für übernatürliche Erscheinungen, die sowohl aus den Liedern der Edda als auch den reichen Volksmärchen bekannt sind und bis heute Einfluss haben. Diese Motive zeigen sich in unterschiedlicher Ausprägung auch in den folgenden aus verschiedenen Genres ausgewählten Beispielen.

Kristín Steinsdóttir

In Kristín Steinsdóttirs Roman „Im Schatten des Vogels“ sind beide genannten Motive von Bedeutung. Es geht um die Geschichte Ljósas, die Ende des 19. Jahrhunderts auf einem einsamen Bauernhof aufwächst. Die Geschichten der alten Magd Kristbjörg sind genauso alltäglich für sie, wie der Brauch, der „Hauselfe“ etwas Milch zu bringen, um sie milde zu stimmen. Ljósa ist der Natur mit all ihren unsichtbaren Bewohner*innen stark verbunden. Als sie heranwächst, verliebt sie sich in einen jungen Mann, doch der Vater verbietet die Verbindung und schickt sie auf eine Mädchenschule nach Reykjavík. Trotzdem es immer Ljósas Wunsch gewesen war, etwas von der Welt zu sehen, und sie jetzt nähen und sogar Harmonium spielen darf, gleitet sie immer tiefer in die Depression. Nach einem Jahr kehrt sie zurück in die Herkunftsregion und heiratet einen Zimmermann. Die Spannungen zwischen ihrem Mann und ihrem Vater stürzen sie in innere Konflikte, für die ihr aber nach beinahe jährlichen Schwangerschaften und Geburten bald keine Kraft mehr bleibt. Lange Zeit wirkt sie einfach exzentrisch und widerspenstig, doch mit den Jahren manifestiert sich eine manisch-depressive Störung, für die sie keine adäquate Behandlung bekommt. Kristín Steinsdóttir schrieb diesen Roman in Anlehnung an das Schicksal ihrer Großmutter; um Milieu und Umstände des bäuerlichen Lebens im 19. Jahrhundert realistisch darstellen zu können, hat die für ihre Kinderbücher bereits preisgekrönte Autorin viele Jahre lang recherchiert. Die Figur der Ljósa ist mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie dargestellt; durch die Erzählung in der ersten Person sehen wir die Welt durch ihre Augen – so auch die damals weit verbreitete Methode, psychisch kranke Personen in eine „Narrenkiste“ einzusperren. Eine grausame Methode, doch, wie die Autorin sagt, ebenso eine „Maßnahme der Verzweiflung“ eines völlig überforderten Umfeldes.

Kristín Steinsdóttir: Im Schatten des Vogels. Roman. Übersetzt von Anika Lüders. 252 Seiten, C.H.Beck, München 2011      EUR 20,60

Yrsa Sigurðardóttir

Auch Yrsa Sigurðardóttir begann ihre Karriere als Kinderbuchautorin, wechselte dann aber ins Krimigenre, in dem sie auch im Ausland bekannt wurde. In ihrem neuesten Thriller „Geisterfjord“ kommt es in einem einsamen Fjord zu gespenstischen Begegnungen, die einer schon mal schlaflose Nächte bescheren können. Spurlos verschwundene Kinder sind als Krimithema schon gruselig genug, aber wenn sie dann auch noch als Geister wiederkehren! Die Verbindung außergewöhnlicher Umstände (völlige Isolation von der modernen Umwelt) mit psychischem Druck lassen die Grenzen zwischen materieller Wirklichkeit und Einbildung verschwimmen – so hofft die Leserin mit den Protagonist*innen, die sich wünschen, das was sie erleben seien nur Halluzinationen.

Yrsa Sigurðardóttir: Geisterfjord. Thriller. Übersetzt von Tina Flecken. 358 Seiten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 2011        EUR 9,30

Steinunn Sigurðardóttir

Ganz ohne Übersinnliches kommt hingegen Steinunn Sigurðardóttir in „Der gute Liebhaber“ aus. In sehr nüchternem, klaren Stil schreibt sie eine anfangs märchenhaft anmutende Geschichte von Karl, der, nachdem er in den USA ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, nach Island kommt, um seine Jugendliebe zu entführen – was ihm dank einer Reihe ziemlich unwahrscheinlicher Zufälle auch gelingt. Ein Leben lang hatte er sich nach Una verzehrt; keine seiner zahlreichen Geliebten, fast alle äußerlich perfekt, konnten ihn über seinen Verlust trösten. Er hält sich für einen „guten Liebhaber“, der eine Frau perfekt befriedigen kann. Er selbst „verzichtet“ dabei auf den Orgasmus. Doch gerade als sich das Märchen mit Una zu erfüllen scheint, erinnert Karl sich an Doreen, eine der weniger perfekten Geliebten, die hinter seine Fassade blickte, die ihn mit seiner Masche des perfekten Liebhabers nicht so einfach davon kommen ließ, und ihn dadurch gleichzeitig abstieß und anzog.

Steinunn Sigurðardóttir: Der gute Liebhaber. Roman. Übersetzt von Coletta Bürling. 223 Seiten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011            EUR 18,50

Kristín Marja Baldursdóttir

Eine Autorin, die von sich sagt: „Gleichberechtigung war meine Vision als ich mit dem Schreiben begann“, ist Kristín Marja Baldursdóttir. Im deutschsprachigen Raum wurde sie 2001 mit „Möwengelächter“ bekannt, das später auch verfilmt wurde. Ihre älteren Romane sind gerade als Taschenbücher neu aufgelegt worden. Neu erschienen ist der Roman „Sterneneis“, der eine 14-Jährige und eine Frau in den 50ern in ein einsames Ferienhaus ohne Strom und damit ohne Handy, Internet und Fernsehen verschlägt, wo sie ein ganzes Wochenende zusammen verbringen. Sie finden einen Draht zueinander, als die Ältere beginnt, der Jüngeren Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen.

Kristín Marja Baldursdóttir: Sterneneis. Roman. Übersetzt von Ursula Giger. 240 Seiten, Krüger Verlag, 2011   EUR 17,50

Es bleibt zu hoffen, dass das Interesse an isländischer Literatur auch nach der Buchmesse weiter anhält. Ob historisch oder gegenwärtig, ob übersinnlich oder ganz ohne Elfen und Trolle. Die isländische Literatur hat viel zu bieten. Kein Wunder, dass die Isländer*innen so gerne lesen.

erstmals erschienen in WeiberDiwan 02/2011